Auf der Jagd nach der Pflaster-Formel
„Go! Go! Go!“ John Degenkolb will bei Flandernrundfahrt und Paris-Roubaix angreifen. Um bei den legendären Frühjahrsklassikern möglichst effizient übers Kopfsteinpflaster zu jagen, hat „Dege“ mit viel Aufwand und Einsatz an dem perfekten Setup für die Rennen gearbeitet – gemeinsam mit den Sportwissenschaftlern von gebioMized.
Exakt 464 Einträge für Profi-Straßenrennen umfasst der Kalender des Weltradsportverbandes UCI für die aktuelle Saison. Von Norwegen bis Australien, von China bis Kanada. Doch nur zwei Eintagesrennen sind dabei, die sich wohl jeder professionelle Rennradfahrer ganz dick und rot im Kalender markiert. Entweder, weil er einen möglichst weiten Bogen um die gefürchteten Kopfsteinpflasterpassagen machen möchte. Oder weil es für ihn schlichtweg die wichtigsten Rennen des Jahres sind. Letzteres trifft auf jeden Fall auf John Degenkolb zu. Wenn im Frühjahr dicht hintereinander getaktet die beiden Radsportmonumente Flandernrundfahrt (1.4.2018) und Paris-Roubaix (8.4.2018) anstehen, will der Profi aus dem Team Trek-Segafredo vorne mitmischen. Ganz vorne!
„Ronde und Roubaix gehören für mich zu den absoluten Top-Rennen des Jahres. Da muss einfach alles passen. Deshalb will ich nichts dem Zufall überlassen“, erklärt Degenkolb.
Seine Mission: auf den gefürchteten Pflastersteinen glänzen und den nächsten großen Sieg seit 2015 holen. Damals durfte er die markante Kopfstein-Trophäe als erster Deutscher Fahrer seit Josef Fischer im Jahre 1896 in die Luft des Vélodrome de Roubaix recken. „So einen Moment vergisst du nie mehr. Das ist Gänsehaut pur. Unbeschreiblich“, erinnert sich John Degenkolb – und sehnt sich nach einer Wiederholung. 2016 hatte ein schwerer Unfall im Trainingslager ihn außer Gefecht gesetzt, 2017 kam er auf Platz 10 ins Ziel.
Im Stakkato über die Ruckelpisten
Genau deshalb katapultieren „Dege“ und sein Teamkollege Jasper Stuyven ihre Renner an einem kalten Novembertag wieder und wieder über die unbarmherzigen Ruckelpisten. Zu einer Zeit, in der die meisten Konkurrenten erst langsam wieder aus der Saisonpause erwachen. Viel Aufwand im Dienste der Wissenschaft und mit einem großen Ziel: Herauszufinden, welches Rad mit welchem Setup die größten Vorteile für die ganz besonderen Anforderungsprofile von Flandernrundfahrt und Paris-Roubaix bietet. Mit an Bord: gebioMized-Technik zur mobilen Analyse des Setups, speziell an der Kontaktstelle Sattel.
„Wir sind hier auf der Suche nach der perfekten Pflaster-Formel“, verrät Daniel Schade.
Der gebioMized-Sportwissenschaftler sitzt im Begleitfahrzeug und blickt gebannt auf den Monitor seines Notebooks. „Wir wollen eine möglichst hohe Dämpfung auf den Kopfsteinpflasterpassagen erreichen, ohne dafür jedoch im Gegenzug mit einem übermäßigen Kraftverlust zu bezahlen“, sagt Schade.
Zwei Rennen mit ganz unterschiedlichen Anforderungen
Jetzt wird sich zeigen, was die vielen Stunden im Labor und am Besprechungstisch wirklich gebracht haben. Denn genaugenommen startet die Vorbereitung auf die großen Rennen der Saison 2018 schon am 10. April 2017 – einen Tag nach dem Zielsprint von Paris-Roubaix. Dann geben die Sportler erste Rückmeldungen dazu, wie das Setup im Rennen funktioniert hat oder wie sie mit der Sitzposition zurechtgekommen sind. Sofort beginnen die Mühlen im Team zu mahlen und die Köpfe zu rauchen: Was haben wir gelernt? Was können wir verbessern? An welchen Stellschrauben sollten wir drehen? Welche Komponenten gilt es zu hinterfragen? Mit den so gewonnenen Erkenntnissen mache sich die Kollegen aus der Entwicklungsabteilung an die Arbeit. Bis zum Herbst haben sie Zeit, um die Ideen umzusetzen. Dann geht es ins Labor.
Einen kompletten Tag im gebioMized concept lab Münster gönnt sich John Degenkolb, um am Setup für die beiden Rennen zu arbeiten. Oder an den Setups, um genau zu sein: „Auch wenn es in beiden Rennen über reichlich Pflastersteine geht: Flandern und Roubaix stellen sehr unterschiedliche Anforderungen“, erklärt Daniel Schade. So geht es zwischen Paris und Roubaix überwiegend flach zu, dafür rasen die Radsportler über Kopfsteinpflasterpassagen, die eher an eine Kraterlandschaft denn an eine Straße erinnern. Im Vergleich dazu fühlt sich das Pflaster in Flandern fast schon seidenweich an, führt dabei aber immer wieder knackig steil gen Himmel. „Entsprechend können unterschiedliche Positionen und Setups durchaus sinnvoll sein“, so Schade.
Messbare Belastung für Mensch und Material
Jetzt also der Härtetest vor Ort. Im November auf den Kasseien Flanderns und den Pavés Nordfrankreichs. Das Thermometer klettert auf maximal 5 Grad Celsius. Zwei Tage lang „ballern“ John Degenkolb und Jasper Stuyven über die Schlüsselstellen der legendären Rennen, um die verschiedenen Setup-Optionen auf Herz und Nieren zu testen. Im Begleitfahrzeug glüht Schades Notebook. Unzählige Daten übermittelt die von gebioMized entwickelte Satteldruckmessung kabellos an den Rechner, sozusagen vom Hintern direkt auf die Festplatte. In Kombination mit dem Feedback der Fahrer erlauben die objektiven Messwerte wertvolle Rückschlüsse darauf, wie das jeweilige Setup tatsächlich funktioniert.
Dazu verrät Daniel Schade zwei wesentliche Erkenntnisse:
Erstens: „Im Vergleich zur Fahrt auf der Straße wird der Sportler auf dem Kopfsteinpflaster 50-mal häufiger durchgeschüttelt. Jeder einzelne Pflasterstein bedeutet einen Impact, also eine Erschütterung im System, die spür- und messbar am Sattel ankommt.“
Geschüttelt, nicht gerührt: Auf dem Kopfsteinpflaster (rote Kurve) wirken die Schläge (Impacts) mit „spürbar“ höherer Frequenz und Stärke auf das Gesäß des Sportlers.
Zweitens: „Der Schwerpunkt des Fahrers im Sattel wird auf dem Kopfsteinpflaster 10-mal stärker durchgeschüttelt. Das Becken ist ständig in Bewegung, bewegt sich auf und ab, vorwärts und seitwärts. Entsprechend muss der Sportler wesentlich mehr Kraft aufwenden, um das System aktiv zu stabilisieren. Er tanzt regelrecht im Sattel.“
Voll in Bewegung: der Vergleich zwischen der Satteldruckmessung auf der Straße (links) und auf Kopfsteinpflaster verdeutlicht, welche Belastung Flandernrundfahrt und Paris-Roubaix für die Profis bedeuten.
Die entscheidenden Körnchen
Für das perfekte Ergebnis reicht es aber nicht, einfach nur alles auf maximalen Komfort zu trimmen. Vielmehr geht es, wie so oft im Leben, um die goldene Mitte. „Übertreiben wir es mit der Dämpfung, muss der Fahrer zu viel Kraft aufbringen, um auf dem Pflaster die Geschwindigkeit hoch zu halten“, sagt Daniel Schade. Zu wenig Dämpfung hingegen bedeutet stärkere Erschütterungen und ein unruhiges Rennrad: „Dann muss der Fahrer wiederum zu viel Energie aufbringen, um das System zu stabilisieren.“ Natürlich kann auch nicht einfach das Setup von einem Fahrer für einen Kollegen übernommen werden. „Jeder Sportler hat ein ganz persönliches Optimum zwischen Dämpfung und Krafteinsatz“, so Schade. Dabei spielen etwa Fahrstil, Kraftverteilung oder Lenkerhaltung eine Rolle.
Die brutalen Effekte der Kopfsteinpflaster-Hatz verstärken sich sogar noch, wenn die Muskulatur im Verlauf des Rennens zunehmend ermüdet. Der Sportwissenschaftler weiß genau, was das im Umkehrschluss bedeutet:
„Wenn du mit dem richtigen Setup am Paterberg oder im Wald von Arenberg auch nur ein paar Körnchen sparst, können die im Finale Richtung Oudenaare oder Roubaix extrem wertvoll sein.“
Jetzt bleibt uns nur noch zu warten und mit Spannung zu verfolgen, wie viele Körnchen John Degenkolb und Teamkollege Jasper Stuyven mit der ausgeklügelten Pflaster-Formel sparen. Auf den unbarmherzigen Ruckelpisten in Flandern und Nordfrankreich.