Mythos Sitzknochenabstand?

In den letzten Jahren hat sich die Messung des Sitzknochenabstands im Fachhandel als vorrangiges Verfahren entwickelt, um den Sattel auszuwählen. Mittlerweile verwenden mehrere Sattelhersteller dieses Messverfahren in verschiedenen Ausführungsweisen, um den Abstand der beiden Sitzbeinhöcker zu messen.
Aber kann der Sitzknochenabstand wirklich die richtige Antwort für jeden Sattelkauf liefern?
Höchste Zeit für uns, dieses Thema etwas näher zu beleuchten:

Die Grundidee hinter der Messung ist denkbar einfach: der Sportler setzt sich auf einen Hocker, der wahlweise mit einer Gelfolie, einem weichen Schaum oder Wellpappe ausgestattet ist, und verlagert seinen Schwerpunkt entweder nach vorne oder nach rechts und links (die Bewegungsaufforderung variiert bei den Herstellern). Dabei drückt der Sportler sein Gesäß in das Material , der Berater misst den Abstand zwischen den beiden Vertiefungen, die die Sitzbeinhöcker darstellen sollen. Dann wird ein Sattelmodell mit passender Sattelbreite gewählt.

Grundsätzlich ist gegen diesen Ansatz nichts einzuwenden. Er kann eine erste Hilfe sein, die Breite des Beckens zu kategorisieren. Jedoch ist er nur bei einer aufrechten Sitzposition wirklich aussagekräftig, wenn zum Beispiel der Sattel gegenüber dem Lenker niedriger eingestellt ist. In diesem Fall sitzt der Radfahrer hauptsächlich auf seinen Sitzbeinhöckern. Der Sattel sollte die ausreichende Breite im hinteren Sattelbereich haben, so dass beide Sitzbeinhöcker genug Auflagefläche bekommen können.

Bei sportiven Sitzpositionen (sportive MTB-Position, Rennrad, Triathlon) ist die Lenkerhöhe geringer als die Sattelhöhe:
Dies führt im Normalfall zu einer Vorwärtsrotation des Beckens, um die Hände überhaupt auf den Lenker auflegen zu können. Dadurch nimmt die Belastung an den Sitzbeinhöckern deutlich ab und wandert auf die Schambeinkufen (Übergang Sitzbein –Schambein) und auf das Schambein. Die Gewichtskraft des Fahrers wird also stärker auf den mittleren und vorderen Teil des Sattels verlagert, deshalb sollte der Fokus in der Sattel-Analyse auf diesen Bereichen liegen!

Im Extremfall werden die beiden Höcker gar nicht mehr belastet, sondern „schweben“ unbelastet über dem Sattel. Ein Phänomen, welches besonders bei aerodynamischen Rennrad- und Triathlonpositionen gehäuft auftritt. Die Vorwärtsrotation des Beckens bei sportiven Sitzpositionen konnten wir mithilfe der gebioMized Druckmessfolie auf dem Sattel in mehreren tausend Satteldruckmessungen über die letzten zehn Jahre eindeutig nachweisen.

Schlußfolgerung:
Für aufrechte Sitzpositionen kann der Sitzknochenabstand als erster Richtwert im Sattelkauf dienen. Jedoch können auch in diesem Fall knöcherne Strukturen des Beckens (abseits der eigentlichen Sitzbeinhöcker) Nervenbahnen und Blutgefäße einklemmen, was zu Kribbeln und Taubheit führen kann. Deshalb ist es grundsätzlich empfehlenswert, die gesamte Fläche des Sattels messtechnisch zu erfassen, um den optimalen Komfort zu erreichen. Bei sportiven Sitzpositionen sollte das Hauptaugenmerk im Bikefitting auf der Reduzierung des Drucks im vorderen Beckenbereich liegen, der Sitzknochenabstand spielt nur eine untergeordnete Rolle.
Zusätzlich ist festzustellen, dass die Sattelpositionierung neben der Auswahl des Sattelmodells ebenfalls von entscheidender Bedeutung ist!

Autor: Daniel Schade