STABILITÄT IST TRUMPF

Eine stabile, gut kontrollierte Körpermitte ist ausschlaggebend für eine effektive Kraftübertragung und relevant für ein beschwerdefreies Radfahren, da sind sich die Fachleute einig. Die individuellen Ursachen einer nicht balancierten Mitte herauszufinden, ist dafür nicht so einfach – Trainingsfaulheit ist eine beliebte, aber häufig nicht korrekte oder zumindest nicht genügende Begründung. Wer kennt das nicht: Auch die Kraftmaschinen unter den Sportkollegen leiden bisweilen an Beschwerden auf dem Rad. In meinem Blog über die Diagnose Beckenschiefstand habe ich über einen klassischen Hintergrund für hartnäckige Rückenschmerzen, Sitzprobleme oder Knieschmerzen geschrieben: eine rotatorische Verdrehung des Beckens, welche meist durch ungleichmäßige Muskelzüge verursacht wird.

Diese eigentlich ganz harmlose Fehlstellung kann Schmerzen bei einer Ausdauerbelastung verursachen und zusätzlich ordentlich Einbuße in der Leistung durch eine eingeschränkte muskuläre Koordination an der wichtigsten Kontaktstelle für die Stabilität -den Sattel- bewirken.
In einem professionellen Bikefitting-Prozess interessiert nun, ob der Sportler mit gezielten Trainingsmaßnahmen erfolgsversprechend gegen diese Verdrehung arbeiten kann. Oder ob wir den Fahrer weiterverweisen sollten, weil eine ideale Sitzposition und gezielte Trainingsmaßnahmen voraussichtlich nicht ausreichen, um der Sache Herr zu werden. „Professionell“ bedeutet in diesem Zusammenhang nämlich auch, die Grenzen der eigenen Profession zu kennen und keine falsche Erwartungshaltung zu generieren. Anhand einer Fahrerin bei uns im Labor möchte ich den Verlauf einmal darstellen, um den Fittern unter Euch Ideen für eine kritische Entscheidungsfindung und den Fahrern unter Euch Hinweise zu liefern, ob eigene Beschwerden mit dem berüchtigten „Beckenschiefstand“ in Zusammenhang stehen.
Unser Beispiel orientiert sich an einer Radfahrerin – genügend Trainingskilometer in den Beinen, um beschwerdefrei vorwärts zu kommen und Krafttraining ist auch kein Fremdwort für sie. Quasi kerngesund, aber es zwickt und zwackt dann schon Mal und auch wenn die Probleme nur beim Radfahren auftreten, leidet sie doch deutlich unter Rückenschmerzen nach langen, aber auch kürzeren und dafür intensiven Einheiten, hat schon einige Sattelkonzepte probiert und ist auch hier noch nicht wirklich glücklich – Details ersparen wir uns hier aufgrund der intimen Situation. Im Trainingslager kamen bei den langen, harten Anstiegen außerdem starke, stechende Schmerzen an der Knieaußenseite dazu, die von einem Sportarzt als „Runners Knee“ bezeichnet wurden – einer Überlastung des sehnigen Verlaufes (Tractus femoris / Iliotibiales Band) eines seitlichen Oberschenkelmuskels.

Bevor sie im Labor aufs Rad steigt, ist in der körperlichen Untersuchung beim Messen des Kreuzbeinwinkels aufgefallen, dass die rechte Beckenschaufel minimal weiter oben steht – ein feiner Hinweis, der auf dem Rad meist noch deutlicher auffällt, aber –das muss man zugeben- ein wenig Erfahrung braucht, um gut erkannt zu werden (siehe Bild oben).
In der Froschposition, bei der in Rückenlage die Fußsohlen aneinander gebracht werden und beide Hüften maximal außenrotiert werden, spürt sie deutlich, dass dies auf der rechten Seite im Vergleich zur linken nicht so gut funktioniert– dies ist ein übrigens guter „Selbsttest“ für die Zukunft, um im Auge zu behalten, ob das Becken wieder dabei ist, „aus der Balance“ zu geraten…
In der Bewegungsanalyse auf dem Rad zeigt sich bei einem stabilen Sprunggelenk ein vermehrtes Einwärtsrotieren des Oberschenkels zum Unterschenkel – sehr typisch bei einer ungünstigen Stellung der Beckenschaufel. Auch die Satteldruckmessung zeigt die spezifische Druckverteilung einer Beckenrotation: Druckspitzen im Bereich der linken Schambeinkufe erklären die gemeinen Sitzbeschwerden und die nicht optimale Stabilität zeigt sich am Verlauf des Kraftangriffspunktes.

Die Kraftmessung bestätigt, dass ungleichmäßig Kraft in die Pedale gebracht wird. Ursache und Folge herauszufiltern ist allerdings nur möglich, wenn wir die Fahrerin regelmäßig im Labor haben. Bei unserem Beispiel weiß ich, dass sie normalerweise eine ausgewogene Links / Rechts Balance vorweist und nutze die Kraftkurve als Analyse- und Kontrollparameter – eine Verbesserung der Kraftbalance im Fittingverlauf zeigt mir, dass wir auf dem richtigen Weg sind.

Um herauszufiltern, ob wir uns als Bikefitter zutrauen dürfen, die rotatorische Fehlstellung mit Trainingsmaßnahmen anzugreifen, setzen wir auf eine „Try out Session“:
Wir arbeiten 15 Minuten mit effektiven Maßnahmen gegen die ungünstigen Muskelzüge, die wir als Ursache für die „Beckenverdrehung“ vermuten. Wichtig ist, dass es alles Maßnahmen sind, die der Fahrer selber zu Hause durchführen kann. Das Programm umfasst unter anderem zwei intensive Übungen am Schlingentrainer, bei der die Reihenfolge beachtet wird: der Bikefitter legt fest, welche Seite sozusagen „nach hinten mobilisiert werden soll.

1: Im Schlingentrainer werden im Seitstütz die Beine maximal gespreizt.

2: Im Schlingentrainer wird eine einbeinige Kniebeuge ausgeführt.

3: Zum Schluß wird der Hüftbeuger noch einmal 5 Minuten in der sogenannten „4er Position“ statisch gedehnt.

Was sagt mir das jetzt? Ein Trainingseffekt ist in so kurzer Zeit schließlich nicht zu erwarten. Erfassen wir die Situation messtechnisch erneut: Ergibt sich eine deutliche Besserung, dürfen wir annehmen, dass sie mit einem gezielten Athletikprogramm große Schritte machen wird und ihre Beschwerden in den Griff bekommt.
Verändert sich allerdings gar nichts, empfehlen wir, einen manualtherapeutisch ausgebildeten Physio oder Arzt aufzusuchen, um eine –unter Umständen- gelenkig verursachte Beckenblockade aufzuheben.
Das erarbeitete Programm ist auch dann sehr wertvoll, um die manualtherapeutischen Maßnahmen langfristig zu unterstützen – eine „Beckenfehlstellung“ passiert nämlich nicht einfach so, die hat man sich vielmehr über eine lange Zeit und einseitige Alltags- oder Sportbelastungen erarbeitet. Und alles, wofür man hart arbeitet, behält man bekanntermaßen – wenn man nicht genauso hart dagegen arbeitet.
Ganz wichtig ist in Folge noch ein sogenanntes Follow up – ein Termin nach einer abgesprochenen Zeit von etwa 2-4 Wochen. Das kann bei Erfolg auch telefonisch erfolgen: „Alles gut? Alles gut!“ Wenn nicht, sollte bei Beschwerden weiter geforscht werden, die Ursachen von Überlastungserscheinungen sollten ernst genommen und mit quasi detektivischem Ehrgeiz herausgefunden werden, sonst sorgt der Körper irgendwann für eine Zwangspause, die viel leistungsmindernder ist, als ein wenig Trainingszeit für den Physio und Bikefitter zu verwenden.

ISCO Level 2 Bikefitter können den genauen Untersuchungs- und Maßnahmenablauf bei mir ordern. Über Rückmeldungen unter lotte.kraus@gebiomized.de freue ich mich natürlich ebenfalls sehr.

Hinweis: Die Bilder zu den Übungen sind nachgestellt, um das beschriebene Vorgehen zu verdeutlichen!

Autor: Lotte Kraus